Palmsonntag

Die große Leidensprozession in Heilbad Heiligenstadt

Bildprozession
Die große Leidensprozession durch Heilbad Heiligenstadt ist eine aus dem barocken reformkatholischen Glaubensleben stammende Frömmigkeitsbekundung. Den frühesten Beleg für ihre Existenz findet man während des Dreißigjährigen Krieges (1618-1648). Die Jesuiten als intellektuelle Speerspitze des Katholizismus hatten die Prozession eingeführt, um das kirchliche Leben zu vertiefen und dauerhaft bei der Bevölkerung zu verankern. Sie hatten mit dieser volksnahen Form der Pastoral enormen Erfolg, denn es entstand eine „Religiosität der Vielen" (Andreas Holzem).

Sechs überlebensgroße Figuren des Leidensweges Jesu werden in einem „religiösen Umzug", der seit 1734 am Sonntag vor Ostern stattfindet, durch die Straßen Heiligenstadts getragen. Der Hyperrealismus der Skulpturen ist beeindruckend. Das Leiden Jesu wird real erlebbar und erfahrbar bis in die letzten anatomischen Details. Diese visionäre Darstellung katholischer Glaubensinhalte war besser als jede Predigt. Die Bilder von Leid und Tod waren vielen Menschen eine Kraftquelle, möglichst auch die ungeliebten Seiten des Lebens zu tragen und zu ertragen.

Massenreligiosität
Im Verlauf des 19. Jahrhunderts entwickelte sich die Leidensprozession zu einem Höhepunkt im „volksliturgischen Jahr" des Eichsfeldes. Massenhaft nahmen die Gläubigen daran teil, auch um sich gegenüber dem Staat abzugrenzen und untereinander zu solidarisieren. Die Teilnahme an der Prozession galt als Gradmesser katholischer Kirchlichkeit.

In den schweren Jahren des Kulturkampfes und der beiden deutschen Diktaturen wurde die Prozession zum Ausdruck resistenten Verhaltens gegenüber den totalitären Staaten. Die Machthaber strebten eine „Herrschaft über die Köpfe" an, die aber nie erreicht wurde. Als Gegengewicht in Gestalt einer Massengefolgschaft entwickelte sie sich zugleich als Glaubensbekenntnis, Gegenöffentlichkeit oder Machtdemonstration. Die Teilnahme daran war auch ein Zeichen des Widerstandes gegen die befohlenen Aufmärsche zu den „Feiertagen der Arbeiterklasse" bis 1990.

Einzigartig in Deutschland
Die Leidensprozession ist tief in der Kultur des Eichsfeldes verwurzelt; sie wurde von Generation zu Generation weitergegeben, auch wenn Änderungen stattfanden. Die lange Dauer dieser „sakralen Alltagskultur" hat immense Bedeutung für die gesamte Region Eichsfeld.

Die Anziehungskraft der volkstümlichen Prozession ist ungebrochen. Die Teilnehmerzahlen liegen zwischen 5.000 und 10.000. Besucher aus fast allen Teilen Deutschlands und aus unterschiedlichen Konfessionen nehmen heute teil. Die Leidensprozession, die zum immateriellen Kulturerbe Deutschlands zählt, verbindet Tradition und Moderne, Kontinuität und Innovation so miteinander, dass ein lebendiges, aktuelles Glaubenszeugnis fassbar wird.

Auch im 21. Jahrhundert ist die traditionsreiche Palmsonntagsprozession für viele ein nachhaltiger, persönlicher Einstieg in die kostbarste Woche im Kirchenjahr und ein hoffnungsvoller Ausblick auf Ostern.

Text: Dr. Torsten W. Müller, Heilbad Heiligenstadt